Michael Fassel

Auseinandersetzungen mit Demenz in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart

Exemplarische Lektüren

Auseinandersetzungen mit Demenz in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart
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Literatur befasst sich vor dem Hintergrund des demographischen Wandels zunehmend mit dem krankheitsbedingten kognitiven Abbau und den Folgen der bis heute unheilbaren Krankheit Demenz und ihren Folgen. Die vorliegende Arbeit untersucht Texte der deutschen Gegenwartsliteratur, die sich mit Darstellungsweisen demenzieller Erkrankungen auseinandersetzen. Zum einen nimmt die Studie fiktionale Literatur wie beispielsweise Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten in den Blick und analysiert die Darstellungsstrategien der jeweiligen Texte insbesondere unter narratologischen Aspekten. Zum anderen werden faktuale, autobiographische Texte beleuchtet. Während die fiktionale Literatur die Innenperspektive dementer Figuren narrativ darstellt, setzen faktuale Texte aus der Sicht der Angehörigen auf Reflexionen, indem die jeweiligen Beziehungen zu den dementen Personen neu ausgelotet werden und das Leben der Betroffenen erinnert wird.
In diesem Sinne ist Demenzliteratur gar als Schreiben gegen das Vergessen zu bewerten. Im Fokus der Analyse der sogenannten Angehörigenpathographien stehen drei autobiographische Erzählungen, die jeweils aus Sicht des Sohnes über den dementen Vater vorgetragen werden. Auffällig ist insbesondere unter maskulinitätstheoretischer Lesart die familiale Rollenumkehr, wenn der Sohn zunehmend zum Versorger des eigenen Vaters wird.
Besondere Aufmerksamkeit wird dabei Tilman Jens’ Text gewidmet, der den prominenten Walter Jens als orientierungslosen alten Mann darstellt. Mit der schonungslosen Darstellung der Demenzerkrankung seines Vaters hat der Autor eine heftige Debatte im Feuilleton ausgelöst, die unter maskulinitätstheoretischen und psychoanalytischen Gesichtspunkten rekonstruiert wird. Anknüpfend an die Untersuchungen der faktualen Literatur fragt die Arbeit kritisch danach, ob die Demenz tendenziell als Konstrukt einer „Epochenkrankheit“ betrachtet werden kann und in der Traditionslinie von Susan Sontags viel beachteten Gedanken über Metaphorisierungsstrategien von Krankheiten wie Tuberkulose und Krebs steht.